Vom Königreich Böhmen in die Tschechoslowakische Republik

Die furchtbaren Spuren, die der Erste Weltkrieg durch Europa zog, trafen auch den Böhmerwald. Abgesehen von den Nöten und Entbehrungen gaben in den Jahren 1914 – 1918 tausende Männer ihr Leben für „Gott – Kaiser – Vaterland“. Am 21.11.1916 starb der greise Kaiser, sein Nachfolger Karl I. versuchte vergeblich, einen Frieden zu erreichen. Nach seinem Regierungsverzicht  wurde am 12. November 1918 die „Republik Deutschösterreich“ ausgerufen: Kein „Kaiser“, das „Vaterland“ hart und heftig umstritten, das war die Ausgangsposition für die so genannten „Friedensverhandlungen“ in Paris.

Erklärungen ohne Macht

Schon am 22. November 1918, also zehn Tage nach der Ausrufung der Republik, erließ die Provisorische Nationalversammlung in Wien ein Gesetz über „Umfang, Grenzen und Beziehungen des Staatsgebietes von Deutschösterreich : „Die Republik Deutschösterreich übt die Gebietshoheit über das geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen innerhalb der bisher im Reichsrate vertretenen Königreiche und Länder aus: Die Republik umfasst : Die Länder Österreich … ob der Enns einschließlich des Kreises Deutsch-Südböhmens …“[i] Noch am selben Tag wurde eine „Staatserklärung“ erlassen, die neben anderen Proklamationen, den Rechtsbereich der Republik auch auf die Sprachinseln auszudehnen versuchte, „bis zur verfassungs- und völkerrechtlichen Sicherstellung“. Der Staatsrat und alle ihm untergeordneten Behörden und Ämter wurden angewiesen, nach diesen Grundsätzen das innerstaatliche Leben zu ordnen und die notwendigen völkerrechtlichen Abmachungen zu treffen.
Das Gesetz und die Staatserklärung tragen die Unterschriften Seitz (Präsident) und Renner (Staatskanzler). Über ein Machtinstrument zur Durchsetzung dieser Erklärungen verfügte die Regierung nicht. Die Absprachen zwischen den Siegermächten auch schon vor der Kapitulation und die militärischen Ereignisse schufen Fakten, gegen die die Besiegten machtlos waren.

Selbstbestimmungsrecht  hier – tschechisches Staatsrechtsdenken dort

Von allen Anfang an standen sich in der Frage der Sudetendeutschen zwei unvereinbare und unversöhnliche Standpunkte gegenüber : Die tschechische Seite verlangte für die ausgerufene Republik die historischen Grenzen des Königreiches Böhmen, die deutsche forderte das Recht auf Selbstbestimmung.
Tschechisches Militär besetzte die Sudetengebiete, am 29.11.1918 wurde Krumau besetzt, am 6.12. Kaplitz, am 22.5.1919 wurden die tschechischen Zollgrenzen errichtet[ii] , die Sudetengebiete unter militärisches Standrecht gestellt. Es kam zu blutigen Zusammenstößen, die 54 Tote forderten.

„Friedensvertrag“ unter Androhung von Waffengewalt

Am 12. Mai 1919 traf die 60 Personen umfassende österreichische Delegation in Paris ein, der auch Vertreter des Sudetenlandes angehörten. Nach zweimaliger Urgenz wurden ihr am 2. Juni die Friedensbedingungen überreicht und ihr eine Frist von 14 Tagen für schriftliche Bemerkungen gewährt. Die Empörung und Bestürzung über dieses Diktat verbreitete sich in allen betroffenen Gebieten. Österreich musste nicht nur auf alle deutschbesiedelten Gebiete in Böhmen verzichten, sondern auch auf kleine Gemeinden in den Gerichtsbezirken im Norden Niederösterreichs, z. B. auf den Bahnhof von Gmünd.[iii] Nach umfangreichen Einwänden wurde, ohne dass auch nur ein wesentlicher  Einwand Berücksichtigung gefunden hätte, der Delegation eine Frist von 5 Tagen zur Unterzeichnung gewährt, widrigenfalls die Friedensbedingungen mit Waffengewalt durchgesetzt werden würde. Die Delegation unterzeichnete unter Protest am 6. September 1919, die Ratifikationsurkunde wurde am 5. November übergeben und die Sudetendeutschen wurden de jure an diesem Tag Staatsbürger der Tschechoslowakischen Republik.[iv]

Kritischer Kommentar aus der Schweiz

Nach bekannt werden der Friedensbedingungen schrieb die Neue Züricher Zeitung am 4. Juni 1919 : „…Die Grenzen sind überall so ungünstig wie möglich gezogen, und große Bezirke, die unzweifelhaft deutsch sind und den Anschluss an die junge deutsch-österreichische Republik wünschen, werden ohne Befragung der Bevölkerung fremder Staaten zugeteilt … Österreich würde durch die Friedensbedingungen der Entente so sehr verstümmelt, dass es innerhalb und außerhalb seiner Grenzen nie an Intrigen fehlen würde, die darauf abzielen, die ihm jetzt entrissenen Brüder wieder mit ihm zu vereinigen. Die Frage Deutschsüdtirols, Deutschwestungarns, auch Deutschböhmens wird neben der Frage des Anschlusses an Deutschland eine beständige Agitation ins Leben rufen, von der die ewigen Grenzfehden der letzten Wochen möglicherweise nur eine schwache Vorahnung sind. Soll dies der Beginn einer Ära des Friedens und der Ruhe sein?“
Am 5. Juni 1919 : „…die Tschechoslowakei büßt durch die Zuteilung so weiter, rein deutschsprachiger Gebiete ihren Charakter als jener Nationalstaat, für den seinerzeit Masaryk, Kramář, Beneš sich eingesetzt haben, völlig ein; sie wird zum verkleinerten Abbild des alten Österreich mit seinem Völkergemisch, mit einer deutschen und einer magyarischen Minderheit und einer slawischen Mehrheit.“[v]
Die Tschechoslowakische Republik, die ihr Entstehen den am 8.1.1918 vom Präsidenten Wilson deklarierten Kriegszielen verdankt, wonach gemäß Punkt 10. „Den Völkern Österreich – Ungarn, deren Platz unter den Nationen gefestigt und gesichert zu sehen wünschen, sollte die freie Möglichkeit autonomer Entwicklung gewährt werden“, verweigerte dieses Recht den Sudetendeutschen. Das Selbstbestimmungsrecht galt für die Sieger, nicht für die Besiegten.


[i]   Gesetz vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 40, Staatserklärung vom selben Tag, StGBl. Nr.41.
[ii]  Rudolf Lehr, „Landeschronik Oberösterreich“, 1987, Verlag Christian Brandstätter, Wien- München, S.   310,312.
[iii] Kurt Rabl, Herausgegeben vom Vorstand des Collegium Carolinum, Forschungsstelle für die böhmischen    Länder „Das Ringen um das Sudetendeutsche Selbstbestimmungsrecht 1918/19“, 1958, Verlag Robert Lerche, München, S. 92 ff.
[iv]  Alfred Bohmann, „Menschen und Grenzen, Bd.4: Bevölkerung und Nationalitäten in der  Tschechoslowakei“, 1975, Verlag Wissenschaft und Poltik, Köln, S. 52.
[v]  Zitiert nach Rabl, aaO. S.93

 

¹ Gesetz vom 22. November 1918, StGBl. Nr. 40, Staatserklärung vom selben Tag, StGBl. Nr.41.
² Rudolf Lehr, „Landeschronik Oberösterreich“, 1987, Verlag Christian Brandstätter, Wien- München, S. 310,312.
³ Kurt Rabl, Herausgegeben vom Vorstand des Collegium Carolinum, Forschungsstelle für die böhmischen Länder „Das Ringen um das Sudetendeutsche Selbstbestimmungsrecht 1918/19“, 1958, Verlag Robert Lerche, München, S. 92 ff.
4 Alfred Bohmann, „Menschen und Grenzen, Bd.4: Bevölkerung und Nationalitäten in der Tschechoslowakei“, 1975, Verlag Wissenschaft und Poltik, Köln, S. 52.
5 Zitiert nach Rabl, aaO. S.93

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